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Schlief ein goldnes Wölkchen

Übersetzt von Thomas Reschke

Für Sie gelesen von Jörg Robbert

Als ich im Verlagsprogramm des Aufbau Verlags die Ankündigung für die Wiederauflage des sehr schön gestalteten Romans von Anatoli Pristawkin „Schlief ein goldnes Wölkchen“ gesehen hatte, war mir klar, dass ich diesen Roman ein drittes Mal lesen werde.

Es ist Sommer, ein Jahr vor dem Ende des 2. Weltkriegs. Die beiden Waisenkinder Saschka und Kolka Kusmin erleben Hunger und Entbehrungen. Die beiden 11-jährigen sind zwei von vielen tausenden Kriegswaisen in Russland. Allein in Moskau gibt es weit über 4.000 Waisenhäuser. Brot wird grammweise auf Lebensmitttelmarken ausgegeben, es gibt nie genug für alle Kinder. Ein ganzes Brot wäre der größte vorstellbare Reichtum für die Kusmin-Zwillinge. Ihre Geschichte erzählt Anatoli Pristwakin: Da ist Saschka, ruhig und still, er ist derjenige, der Ideen aus sich heraus holt, Kolka gerissen, zupackend und praktisch, erwägt blitzschnell wie die Ideen ins Leben umzusetzen sind. Zum Beispiel einen Tunnel graben, in den Brotschneideraum des Waisenhauses. Dann macht ein Gerücht die Runde: der Kaukasus, Berge, Paradies... Die Zwillinge sind elektrisiert, Saschka träumt von den Bergriesen, die vom Dichter Lermontow romantisch beschrieben werden und dessen erste Gedichtzeilen dem Buch seinen Titel gaben: „Schlief ein goldnes Wölkchen unter Sternen, an des Felsenriesen Brust geborgen [...]“ Und wirklich die beiden schaffen es in den Zug der mit 500 Waisenkindern in den Kaukasus fährt.

Der Kaukasus, diese Vorahnung haben die beiden schon bald nach der Ankunft, ist nicht das erhoffte Paradies. Im Schatten der Bergriesen lässt Stalin die Tschetschenen vertreiben und nach Sibirien deportieren, sie sollen mit den deutschen Faschisten kollaboriert haben. Entvölkerte Dörfer und Landwirtschaften werden nun von Russen besiedelt, die 500 Waisenkinder sind Teil dieses Programms. Die ersten Tage in ihrer neuen Heimat muten paradiesisch an, obwohl die beiden sich wundern: Berjosowskaja heißt ihr Ort „Birkenhain“, aber weit und breit ist keine Birke zu sehen „Dej Tschurt“ steht auf einem anderen Schild. Und schon bald geraten die Waisenkinder in ihrer neuen Heimat in die Kämpfe und Auseinandersetzungen zwischen tschetschenischen Widerstandskämpfern und der russischen Armee. Nach einem ersten Angriff tschetschenischer Reiter spitz sich die Situation dramatisch zu.

Es gibt Geschichten, die kann man sich nicht ausdenken. Anatoli Pristawkin erzählt nicht eine, sondern seine Geschichte. Wir merken das schnell und sind beim Lesen überrascht, weil Pristawkin etliche Male im Text den Erzählstil wechselt und von der dritten Person in die Ich-, bzw. Wir-Perspektive wechselt. Gerade im ersten Teil des Romans macht dieses Stilmittel die Vorahnung vor dem, was die beiden erwartet, noch intensiver, eindringlicher. Später schreibt er: „Wir hatte nicht die Angst vielleicht sterben zu müssen, es war die Furcht eines gehetzten Tieres, das von einem unbekannten eisernen Ungeheuer gejagt wird.“ Besonders berührt mich, der ich selbst ein Zwilling bin, wie er die Geschichte der Kusmin-Zwillinge Saschka und Kolka erzählt. Das stille Einverständnis, die Kraft, die sich die beiden geben um sich in jeder Situation zu behaupten. Die Sicherheit, die sie dadurch gewinnen, dass Sie sich auf Nachfragen immer als der jeweils Andere ausgeben. So hat der Roman, der eine tragische Geschichte erzählt, immer wieder auch Züge einer heiteren Schelmengeschichte. Erste Risse kommen in ihrer Beziehung auf, als die Lage sich zuspitzt und beiden sich entscheiden müssen, ob sie bei der Erzieherin Regina Petrowna, in die sie sich verliebt haben, bleiben oder „wegmachen“.

Anatoli Pristawkin, war einer der beiden Kusmin-Zwillinge, wohl Kolka, der Zupackende. Die Erlebnisse im Kaukasus haben ihn geprägt und nicht wieder losgelassen. Über einen der wenigen glücklichen Momente, als die Erzieherin Regina Petrowna eine Geburtstagsfeier für Saschka und Kolka improvisiert, schreibt er: „Vielleicht wurde ich ja erst an diesem Tag wirklich geboren.“

1981 hat Pristawkin den Roman geschrieben, erst 1987 durfte eine erste zensierte Ausgabe in Russland erscheinen. Wie wichtig der Roman für Pristawkin war, können wir ahnen, wenn er dem Buch vorausschickt: „Diese Erzählung widme ich allen, die dieses Kind der Literatur als ihr eigenes annahmen, als es kein Obdach fand, und so ihren Autor nicht verzweifeln ließen.“

Sein Leben lang hat sich Pristawkin für Gerechtigkeit eingesetzt, mehrere Mal über die Tschetschenien-Kriege berichtet, von 1992 bis 2001 war er Vorsitzender der Begnadigungskommission, die tausende Gefangene aus den unmenschlichen Haftanstalten und Lagern Russland holte und vor der Todesstrafe rettete. Auch darüber hat er ein beeindruckendes Buch geschrieben. „Schlief ein goldnes Wölkchen“ ist der einzige auf Deutsch erhältliche Roman. Bis zu seinem Tod 2008 war er Berater des Präsidenten in Begnadigungsfragen.

 

Diese Literaturempfehlung können Sie auch im hr2-Podcast "Neue Bücher" nachhören: 
https://www.hr2.de/podcasts/neue-buecher/anatoli-pristawkin-schlief-ein-...

 

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Roman
Einband: gebundenes Buch
EAN: 9783351038212
22,00 €inkl. MwSt.